Die menschliche Verwundbarkeit übt im persönlichen und politischen, sozialen und kulturellen, und nicht zuletzt im religiösen Leben eine unerhörte Macht aus. Denn häufig sichert man sich selbst gegen Verwundungen ab, indem man Andere der Verwundung aussetzt. Das Spannungsfeld von Vulnerabilität und Sicherheit erzeugt ein Gewaltpotential, das vielerorts am Werk ist – nicht zuletzt an den umstrittenen Grenzen Europas.

Aufgrund seiner gesellschaftlichen Relevanz entwickelt sich „Vulnerabilität“ seit etwa dreißig Jahren zu einem Schlüsselbegriff wissenschaftlicher Forschung. In den 80er Jahren begann der Diskurs in der Armutsforschung und Entwicklungspolitik. Die medizinischen Fächer konnten den Begriff aufgrund ihrer Verbindung zu Wunden und deren Heilung aufgreifen und etablierten das Begriffspaar „Vulnerabilität und Resilienz“. Die Naturwissenschaften machten mit der Entwicklung konkreter Kriterien die Vulnerabilität messbar und fokussierten dies in Klimafolgenforschung, Humangeografie und Biodiversität.

Dabei agieren die Wissenschaften nicht getrennt voneinander. Vielmehr arbeiten Forschungsprojekte zur Vulnerabilität häufig interdisziplinär. Wer die Verwundbarkeit einer Bevölkerungsgruppe im Blick auf Armut oder die Verwundbarkeit einer Landschaft gegenüber Klimaveränderungen erforschen will, braucht Erkenntnisse aus verschiedenen Wissenschaften. So ist in den letzten Jahren das entstanden, was ich den „interdisziplinären Vulnerabilitätsdiskurs“ nenne.

Eine Analyse der Forschungsprojekte, die von der DFG in den letzten Jahren gefördert wurden und die den Begriff Vulnerabilität / vulnerability / Verwundbarkeit in Titel, Projektbeschreibung oder Projektergebnis haben, ist hier aufschlussreich (vgl. https://gepris.dfg.de). Während im Jahr 1999, dem 1. Jahr der Erfassung bei „gepris“, die Förderung von lediglich 2 Projekten startete, waren es im Jahr 2015 bereits 20 Projekte. „Vulnerabilität“ etabliert sich im deutschsprachigen Raum als neuer Schlüsselbegriff interdisziplinärer Forschung.

förderbeginn

Allerdings ist die Theologie an keinem dieser Projekte beteiligt. Ihre Verortung in den neuen, fächerüberschreitenden Debatten steckt noch in den Kinderschuhen, auch wenn es in der Anthropologie und Ethik erste Ansätze gibt. Dieses Fehlen ist erstaunlich, denn Verwundung und Opfer, Leid und Hingabe gehören zu den Kernthemen christlicher Theologie. Zudem verstärken aktuelle gesellschaftliche und politische Herausforderungen wie Migration und Flucht, Armut und Krieg, Religionskonflikt und Terror die Notwendigkeit, sich theologisch mit Vulnerabilität auseinanderzusetzen. Welchen Erkenntnisgewinn bietet die Theologie – sowohl in religionspolitisch bestimmten als auch in säkularen Problemlagen der Vulnerabilität?

In der christlichen Theologie liegt der Ansatzpunkt in der „Inkarnation“, der Lehre von der Menschwerdung Gottes, die ein Zeichen der Humanität setzt. Nach christlicher Überzeugung macht sich Gott aus freien Stücken verwundbar, als er in Jesus Christus Mensch wird. Gott kommt in die Welt ohne Rüstung und ohne Waffen. Er wird geboren als verletzliches Kind. Im Blick auf den heutigen Vulnerabilitätsdiskurs ist diese Position erstaunlich. Denn dort ist Verwundbarkeit etwas, das es zu vermeiden gilt. Gott aber geht das Wagnis der Verwundbarkeit ein – und mit ihm alle Menschen wie Maria und Josef, Paulus und Maria Magdalena, die zur Gründungsgeschichte des Christentums gehören.
Die Inkarnation weist damit auf einen Punkt hin, der im Vulnerabilitätsdiskurs bisher verdeckt ist: die eigene Verwundbarkeit zu riskieren, ist für ein humanes Zusammenleben notwendig. Die Zerbrechlichkeit des Lebens erfordert Menschen, die sich in Liebe, Zuneigung und Solidarität verletzlich machen. Daher steht das menschliche Handeln vor einer Doppelfrage:

  • Wo ist es notwendig, sich selbst und die eigene Gemeinschaft (Familie, Religion, Staat) vor Verwundungen zu schützen? Wer sich nicht vor Verwundungen schützt, wird das schnell mit dem Leben bezahlen.
  • Wo ist es notwendig, um der Humanität willen die eigene Verletzlichkeit zu riskieren?

Um ein humanes Leben zu führen, genügt Selbstschutz allein nicht, der mit der Macht von Grenzen und Waffen agiert. Wer allein auf Selbstschutz setzt, braucht immer höhere Mauern, mächtigere Grenzanlagen und schärfere Waffen. Oft sind es gerade die Sicherungssysteme, die neue Gewalt hervorrufen und damit die Verwundbarkeit erhöhen. Das Verhältnis von Vulnerabilität und Sicherheit ist kein Nullsummenspiel. Vielmehr bringt das Christentum ein Drittes ins Spiel: die „Andersmacht“, die dort entsteht, wo Menschen ihre eigene Verwundbarkeit riskieren, um das Leben Anderer zu schützen und zu fördern. Diese Andersmacht ist nicht exklusiv in der Kirche am Werk, sondern im Leben aller, die den Gewaltspiralen der Verwundbarkeit widerstehen und Hingabe wagen. Im Spannungsfeld von Verwundbarkeit und Sicherheit ist es auch für eine Gesellschaft entscheidend, ob sie darauf setzt, dass das Wagnis eigener Verwundbarkeit zur Sicherung des Lebens beitragen kann. Dann gehen Menschen und Gemeinschaften gestärkt aus diesem Wagnis hervor: aus Vulnerabilität wächst Kreativität und Stärke.

Zur Verortung der Theologie im Vulnerabilitätsdiskurs verweise ich auf folgende Publikationen:

Dass auch andere Religionen wie der Islam ihre eigenen Perspektiven einzubringen haben, zeigte die Fachtagung „Verwundbarkeit: natürlich, göttlich, gefährlich. Christliche und muslimische Perspektiven zum Vulnerabilitätsdiskurs“ ( 7.-9.11.2014 in Münster). Diese Fachtagung führte die deutsche Sektion der ESWTR (European Society of Women in Theological Research) in Kooperation mit der Arbeitsstelle Genderforschung der Universität Münster durch. Erstmals überhaupt wurde hier die Verbindung von Theologie und Vulnerabilitätsdiskurs wissenschaftlich diskutiert.